Ganz ohne Pressspann. Von Norbert Trawöger


Neunundvierzig Jahre habe ich werden müssen, um noch kein einziges Mal in der Disko gewesen zu sein. Vielleicht würde mich das immens glücklich machen? Diesen Versuch hebe ich mir noch auf, man weiß ja nie, welche Zeiten noch kommen. „Wenn Du willst, dass ich glücklich bin, sage ja!“ Fürs Glück unserer Siebenjährigen bin ich verantwortlich. Andererseits brauche ich nur Ja zu sagen, und wozu, gar nicht erst zu wissen. „Unterschreibst Du immer noch die Erfüllungen?“, fragt sie mich, als ich ein Formular ausfülle. Ich bin ihres Glückes Schmied und vermute, dass mein dahingehender Verantwortlichkeitsbereich viel größer ist, als ich es zu ahnen wage. Offen gesagt gehe ich mit dieser Glücksverantwortlichkeit sehr leichtfertig um. Der permanente Gedanke daran würde mich ums Leben bringen. – Und das sagt einer, der noch nie in der Disko war. Abnorm war ich schon immer, als Achtjähriger habe ich Tag und Nacht die Vierte von Bruckner gehört. Als Musikerkind greift man eben früh nach Flöte und Schallplatten, wie ein Spross eines Tischlerhaushalts vermutlich nach Hobel und Pressspannplatte. (Mein Bruder ist übrigens Tischler geworden – und was für einer! Ganz ohne Pressspann wusste er schon als Vierjähriger, dass er das wird und hat daran nie wieder gerüttelt.) Das Naheliegende wird ergriffen, bis man in der Pubertät begreift, dass dies (vorübergehend) gar nicht geht. Ich hatte nicht einmal eine normale Pubertät, sie kam spät und war unheftig. Mit 16 Jahren sang ich noch kreuzbrav mit hellem Alt in der Johannespassion. Ich war ein stilles, wortkarges, schüchternes, angepasstes und scheues Kind, was mir keiner mehr glaubt. Ich flüchte mich immer noch in die Vierte oder die Achte, die Dritte in der Urfassung, die Neunte, Sechste oder die Nullte, sie bringen mich ohne jede körperliche Anstrengung in meinen Schutzraum, von dem ich mich überblicke und mitunter dankbar glücklich bin. Es klingt so scheiß pathetisch wie die Verleumdung, dass Bruckner ein Musikant Gottes sei. In Wahrheit war er ein Ketzer, sage ich Euch und komme dafür viel zu spät nicht mehr aus der Pubertät. Falls wer fragt, ich unterschreibe immer noch die Erfüllungen. Wenn gar nichts mehr hilft, dann gehen wir in die Disko. Versprochen!

Zum Autor:
„You don't look like a classical musician!" meinte der belgische Journalist Philippe Manche über Norbert Trawöger, der aus einer Familie stammt, bei der schon Franz Schubert „höchst ungeniert" zu Gast war. Der vielfältig gestaltende Musiker ist Künstlerischer Direktor des Bruckner Orchester Linz und Intendant des Kepler Salon. Trawöger lebt „genial-schräg" (Zitat OÖN) in ständig verändernden künstlerischen Aggregatzuständen und meldet sich dabei immer wieder unruhig zu Gesellschaft, Kunst und Kultur zu Wort, spielt Flöte und mit seinen Kindern. www.eNTe.me

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