Als es endlich einmal so schön war, wie es nie war. Die Nachlese zur Regressionsdisko

Es wird schön gewesen sein“ sang das Erste Wiener Heimorgelorchester, als hätte es uns in einer vorvergangenen Ahnung den Soundtrack für unseren Abend geschrieben. Wird mich in der noch nicht vergangenen, weil fernen Zukunft ein Mensch aus dem Feuilleton fragen, welches meine größte Lebensleistung gewesen sein wird, antworte ich seit vergangenem Freitag nicht mehr „Dass ich noch nie jemanden ins Gesicht geschlagen habe“, sondern „dass ich den Rahm auf der Menschensuppe für die Regressionsdisko abschöpfen durfte“. Ich werde bis dahin aber noch einmal über diese Metaphorik nachdenken. 

Irgendwann ab 18 Uhr begann es, im Strandgut warm zu werden. Wolfgang hat die standesgemäßen Lesungs-Facilities auf der Bühne arrangiert, ein Laptop für die Tanzmusik fährt hoch. An der Bar fragt Lydia nach dem ersten Hallo, ob das Geschäftliche schon abgeschlossen sei und man zum ersten Bier übergehen könne, Anita öffnet die Laden und zeigt her, was es gibt – das Beste aus dem goldenen Dreieck der Bierkunst. Wir werden relativ viel davon trinken. 

Martin Fritz schickt eine Botschaft aus dem Hotel, er freut sich, dass wir hier in Linz sehr fluide mit den Geschlechtslektüren umgehen. 

Draußen gehen die Sterne auf, die Stars tropfen herein, ohne irgendeine Umschweife sprechen wir von unseren Träumen („Neulich hab ich ein ganzes Buch geschrieben mit dem Titel „Jetzt kommt der Mond, die geile Wartescheibe“) und Bindungsängsten. Eine Abwärtsspirale der emotionalen Resilienz:

Meindl d.Ä.: Ich hab jetzt einen Hund, daran muss ich mich erst gewöhnen, dass da ein Wesen immer da ist und mich braucht.

L.: Wie muss das erst mit einem Kind sein!

Hirschl: Mich setzen lebende Pflanzen schon unter Druck.

Meindl d.J.: Mich stressen die Bedürfnisse meines Autos.

Ein Kollege, den ich aus Datenschutzgründen „Friedinger“ nenne, tritt ein und verknallt sich innert der ersten Nanosekunde in L. Er wird den Barbereich in den kommenden Stunden nur noch selten verlassen, denn erstens muss er mit dem Zug wieder heim nach Wien (eine Schmach für einen in Linz Geborenen, wie er zu Recht sagt), zweitens will er ja sehr oft von L. ein neues Getränk ausgehändigt bekommen. 

Meindl sen., Hirschl und Kutzenberger sind in matching S-W-Abendgarderobe erschienen, Fritz flasht mit Katzen-Sweater. Es kommt zu ersten Zirkel-Adorations-Selfies. 

Es schlägt sieben, das lesende Volk ist fast vollständig da, DJ René Monet ist schon tief in den 90ern-Alternative-Hits des vorhergehenden Jahrtausends. „Cool eigentlich, dass gar kein Publikum gekommen ist, dann müssen wir nur ganz kurz lesen!“ sage ich, da klärt man mich auf, dass der offiziell verkündete Beginn erst um acht sei. Und tatsächlich, zur Primetime sind Leute da, die es nicht sein müssten, und sie wollen etwas vorgelesen bekommen, ohne dafür zu bezahlen. Warum auch, sie haben ja schon ihr Steuergeld dafür gegeben. Und weil die Stadt Linz uns davon einen lieben kleinen Teil zugesprochen hatte, lesen wir dann auch. Und wie! 

Das Schönste geschieht im Grunde gleich zu Beginn, als nämlich Meindl jun. ihr Lesungsdebüt abliefert. Alle sind ganz dings, einwendig und nostalgisch. Gleich mit dem ersten Streich wäre die Anforderung übererfüllt: Die Projektfrage „An welchen Tag deines Lebens würdest du zurückreisen wollen?“ hat Cordula Meindl in „Schilling und Stromausfall“ aufs malerischste beantwortet: „Später schauen wir mit der Mutter Dornenvögel und dürfen einen Schluck Bolero trinken. Das Leben ist gut.“

Weil das Leben gut ist, folgt Stefan Kutzenberger mit dem Vortrag seines Versuches „über den glücklichen Augenblick“, den er – zu Fleiß und wegen übermenschlichen Optimusmusses – in die Zukunft legt. So sagt er sehr wahrheitsgemäß und schön: „Solange das Leben nur einen Atemzug länger dauert, kann der glücklichste Augenblick noch in der Zukunft liegen, soll er sogar in der Zukunft liegen, denn es wird immer besser, muss immer besser werden, damit am Ende dann alles gut sein kann, weil wir ja wissen, solange es nicht gut ist, ist es auch nicht zu Ende.“ Weil er es auch gut mit uns meint, lobt er ein Trinkspiel aus. Bei jedem kleinen Verleser muss getrunken werden, was er dann auch macht, aber ganz offensichtlich auch zu Fleiß. 


Zu Fleiß liest auch der Hirschl nicht den Text, für den ihn die Stadt Linz bezahlt hat. Stattdessen gebraucht er das Auditorium als Versuchskaninchenstall für seinen neuen Text, in dem ein sehr nervöser junger Mensch ein Vorstellungsgespräch hat - aber als Leiter des Gesprächs. Niemand beschwert sich! Erster Spaß-Höhepunkt! Könnte aber auch an Kutzenbergers rhetorischem Bierspiel gelegen haben. 

 


Jetzt aber kommt Frau Herr Martin Fritz, Nord-, Ost- und Südtiroler der Herzen. Es liegt die Aura queerer Countrymusik in der Luft, man kann sich ein Sommergewitter dazudenken und feststellen, dass das gute Granitbier ein bisschen auch nach Gin Tonic schmeckt. "in der sonne liegen, lesen, einschlafen, baden: rätselhaft ist eigentlich nur, warum es nicht immer so ist", genau so ist es doch!!! Bei Fritz ist "Schnorcheln das bessere Spazierengehen" und das ganze Schreiben eine einzige Pfiffigkeit und Reflexion, warum wir es nicht noch schöner haben, es wäre doch kein gar so großes Ding. Schaut einander einmal alle mit Liebe an und leset: I THINK WE'RE ALONE NOW.

Einen liebevollen Blick warf Linda Wallner-Topf dann auf die baumelnden Geschlechtsmerkmale ihrer Mitschöpfung. Das schreibe ich nicht des Clickbaitings wegen hierher, und schon gar nicht, um ihre makellose Karriere zu besudeln, sondern weil die sommerlich-unbekümmerte Barkörperlichkeit die Hauptrolle in ihrem Beitrag "Nackter Mann mit Frettchen an der Leine" spielt.

Beim nackten Frettchenmann handelte es sich aber nicht, und ich wiederhole, NICHT um den Gatten Andreas Topf, sanftmütiger Judo-Meister und Wahlbrudi der Projektverantwortlichen. Seiner Suche nach der verlorenen Zeit unter besonderer Berücksichtigung des Computerspiels Day of the Tentacle darf seither als gültige Marcel-Proust-Adaption für Nettingsdorf bzw. Linz-Urfahr gelten. 

Anna Schrems war an diesem Abend zum Glück auch zugegen - ihrer Erstreaktion auf  meine einstigen, wirren Gedanken zum Thema "Stell dir einmal einen perfekten Tag irgendwo zwischen Kindheit und heute vor!" verdankt sich die Existenz der gesamten Regressionsdisko (aber eben auch der Stadt Linz, 1000 Dank noch einmal!). Ich bin es nämlich gar nicht gewohnt, dass mich jemand ernst nimmt (ich bin schon froh, wenn ich drei Sätze ohne Unterbrechung sagen darf). Sie hat es getan und mir in weiterer Folge einen der tiefgründigsten Texte geschenkt, den man - Bonus! - auch nicht ohne Wasser im Mund lesen kann. Man will das alles gekocht bekommen. SOFORT. 

"Als Letzter dieser viel zu langen Veranstaltung darf ich jetzt lesen!" sprach René Monet, was natürlich eine Lüge war, zumindest in meiner Innenwelt, denn wegen Schönheit und guter Unterhaltung war mir in den Fünfviertelstunden zuvor ein gewaltiges subjektives Zeitparadoxon widerfahren, alles viel zu gut und viel zu kurz! Es misslang auch dem Monet, mich zu langweilen, obwohl sich sein Beitrag "Die letzte Rückführung des Ewald Kleinhäusl" um die Kuriosität drehte, dass alle wiedererinnerten früheren Leben immer knallspannend gewesen sein sollen, wie ein existenzieller Kinderfasching, alle waren immer nur Prinzessinnen und Hexen und Cowboys und Hitler und Napoleon. 

*    *    *

Und dann war's aus mit dem Text, aber damit die Schrift erfüllt sei, musste auch der Tanz sein. Über diesen würdelosen, aber innigen Abschnitt des Abends spreche ich nicht, denn wer nicht dabei war, hat's einfach verpasst, die schönsten Momente des Lebens kann man nicht streamen oder nacherzählen. Womit der literarische Teil des Abends eigentlich auch ad absurdum geführt ist. Damit ist's gut! 

Ein Projekt soll man im Übrigen nur abschließen, wenn man ein neues hat. Dank der Anregung Meindl juniors wird es in den kommenden Jahren zu einer sehr disruptiven Literaturinnovation kommen - eine pfiffige Kombination aus Tombola und Nekrologie: das Nachrufwichteln. 

Die allerbesten und herzinniglichsten Grüße gehen an das vielgeliebte Team des Kulturvereins Strandgut sowie an die guten Menschen, die aus guten Gründen nicht physisch anwesend waren: Norbert Trawöger, Karin Peschka, Stephan Roiss, Ilse und Fritz Kilic, René Freund, Mieze Medusa, Renate Silberer, Markus Köhle und Anna Weidenholzer. Ihr seid das Salz in meiner Suppe!  

Fotos: Anita Ferihumer, Meindl sen. + jun. 

Vergelt's Gott: 


 

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Ganz ohne Pressspann. Von Norbert Trawöger

16 Göttinnen. Von Stephan Roiss

Manfred. Von Karin Peschka