Die letzte Rückführung des Ewald Kleinhäusl. Von René Monet


Foto: Robert Maybach

Das Alltägliche verliert an Wert.
Quodiana vilescunt.
- Lateinisches Sprichwort

Suchte man ein wort, nur ein einziges wort, das Ewald Kleinhäusl treffend beschreibt, so wäre es etwas in der art von “junggeblieben”. Da kleiner als die meisten – euphemistischer gesagt: “von der statur her nicht überragend” – war Kleinhäusl ein dünner, glatzköpfiger 55jähriger, gerade einmal 163 cm groß, obwohl er auf nachfrage gerne auf 165 aufrundete. Sein bäuchlein stand etwas hervor, allerdings nur von der seite richtig zu sehen, hier dafür umso auffälliger, was seiner ansonsten fast schon untergewichtig wirkenden generellen anmutung geschuldet war. Damit einhergehend hatte er ein rundes gesicht, faltenfrei, dunkle haare ohne grau, ein jugendliches auftreten und trug legere kleidung. Er wirkte wie 40.

Der “Kleine Häusl”, wie seine stammtischfreunde, alles ehemalige schulkollegen, ihn (nicht abwertend) nannten, war seit einem schlimmen bandscheibenvorfall in frühpension. Seine vormittage unter der woche verbrachte er gerne im massagesalon “sanfte hand”, wo er einen dauerrabatt genoss und sich von Emma, einer alten liebe aus verflossenen zeiten, jeweils eine dreiviertelstunde rücken und schultern massieren ließ. Sie war es auch, die ihm Dr. Gutmuth empfohlen hatte, einem psychotherapeuten mit hang zu experimentellen therapievorschlägen, den er nun immer freitag nachmittag für eine stunde besuchte, ursprünglich, um seine nicht ganz traumatische, aber doch belastende kindheit auf einem waldviertler bauernhof aufzuarbeiten. Nun widmeten sie sich aber schon bereits ein jahr der rückführung in Ewalds frühere leben. Nicht dass er unbedingt und felsenfest daran glaubte, wirklich mittlerweile etwa 15 mal wiedergeboren zu sein, doch die art der erinnerungen ließ ihn nicht großartig zweifeln.

Angefangen hatte es mit den ersten, plötzlich wie aus heiterem himmel unter hypnose aufgetauchten situationsbildern und wortfetzen, die sich nach zwei, drei sitzungen als das leben von – überraschung! – pharaonin Hatschepsut, die erste königin Ägyptens mit voller königlicher titulatur, herausstellte, und die er später mehrmals bei ihren unternehmungen begleitete. Erst nur als zuschauer, quasi ein blinder passagier in ihrem kopf, dann immer öfter mit dem gefühl, auch die handelnde, ursprüngliche person zu sein.
Unter den anderen, durch erfolgreiche rückführungen (Dr. Gutmuth sprach hierbei immer von “regression”) erfahrenen persönlichkeiten befanden sich durchwegs nur berühmte oder zumindest außergewöhnliche menschen.

Erwähnenswert sein leben als Ritter Heinrich von Fleisberg, der als schüler des Hartmann von Aue ende des 12. jahrhunderts während des dritten kreuzzugs minnegesänge zu verfassen versuchte, heute aber in vergessenheit geraten. Unter den bekannteren namen fanden sich Galileo Galilei, Ignaz Semmelweis, Häuptling Pontiac, der erste Kaiser der Ming-Dynastie Zhu Yuanzhang oder der erfinder des farblosen glases für sehhilfen, Abbas ibn Firnas.
Doch was Kleinhäusl nie so richtig einleuchtete, war die etwas willkürliche auswahl des ihm erinnerlichen. Als pharaonin badete er viel, er aß, nicht schlecht zwar, doch eher lustlos von den ihr aufgetischten opulenten speisen, betrachtete nachts sturzbetrunken den sternenhimmel und unterhielt sich mit sklaven über regelschmerzen, während diese ihren körper mit wertvollen ölen einrieben. Im aufgezwungenen musikunterricht zupfte sie widerwillig an der harfe herum, oder lauschte den faden schilderungen von beamten, die sie allesamt als großteils unfähig bis gefährlich einstufte.

Ritter Heinrichs leben war nur unmerklich interessanter, da er den großteil seiner zeit dem dichten widmete, aufgrund seiner untalentiertheit aber selten etwas fertig brachte. Stundenlang saß er über zotigen gedichten, das thema waren immer imaginierte liebesspiele mit hübschen burgfräuleins, die er als schlecht verborgene umschreibungen von geschlechtsverkehr konzipierte, verkleidet in komischen metaphern, oft durch heranziehen von eindeutig geformtem gemüse, dem streicheln von äpfeln und birnen, dem durchpflügen von äckern, die mit dem stock in der hand die feuchte quelle zwischen den gerade erblühten rosenbüschen suchend oder ganz einfach im unkultivierten ziehen seines schwertes und hineinstecken in die nächste scheide. Sein oberflächliches, lyrisch überhöhtes frauenbild konterkarierte er mit seiner im grunde tiefen verachtung alles weiblichen, das er als schwach, unebenbürtig und auf eine lästige weise hilfsbedürftig ansah. Dies und die qualität seiner “werke” ließen den erfolg bei sämtlichen frauen, denen er nachzusteigen versuchte, ausbleiben.

Unlängst erinnerte sich Ewald an seine zeit als der bereits genannte Abbas ibn Firnas, doch tüftelte der tagaus und tagein nur an dem indischen dezimalsystem herum, das er in Andalusien einführen wollte. Da ihm leider das volle verständnis der ziffer null nicht richtig verinnerlichbar werden wollte, was laute wutanfälle und große frustration hervorrief, berauschte er sich viel zu regelmäßig in seinem zimmer an indischem hanf und aß unmengen von feigen, worauf er sofort einschlief oder aber er verhüllte sich und schlich heimlich in ein bordell, woran nun Ewald wiederum keine rechte freude fand, war Firnas doch homosexuell und die lust an dieser neigung dem jetzigen, katholisch-konservativ erzogenen Kleinhäusl nicht zugänglich. Dieses thema verführte ausgerechnet den Dr. Gutmuth zu langen vorträgen über einen vermuteten vaterkomplex seines patienten und dessen eventuellen hintergrund. Kleinhäusl war das unangenehm und so versuchte er stets solch geartete ausschweifungen unerwähnt zu lassen.

Mit seinen freunden sprach er selten über sein “hobby”. Die wöchentlichen rückführungen waren so etwas wie eine rückwärtsgewandte flucht aus seinem eigenen, ereignislosen leben, etwas ganz privates, etwas, wovon er glaubte, dass es ihm eine befriedigung geben könnte, die er sonst nicht fand.
Wenn es doch aber nur nicht immer diese unsäglich langweiligen alltagsgeschichten wären, die auftauchten! Warum konnte er sich nicht einmal nur an etwas wichtiges, eindrucksvolles, monumentales, spektakulöses erinnern?

Hier eine kurze auflistung der gerade noch erwähnenswerteren erlebnisse seiner spirituellen vorfahren:

Häuptling Pontiac ritt über die prärie, es regnete und war furchtbar kalt. Das feuer wollte nicht recht brennen und der geschossene hase war alt und zäh. Das salz war auch aus.

Ignaz Semmelweis stritt mit seiner frau, füllte unmengen von formularen aus, schrieb briefe, stritt mit kaiserlichen beamten und kollegen und später daheim wieder mit seiner frau.

Galileo Galilei hatte einen schiefen rücken, vom dauernden stieren durch das fernglas, außerdem trank er schlechten wein und litt dadurch unter wiederkehrenden magenschmerzen.

Leibniz erfand die infinitesimalrechnung und das dualsystem, aber Ewald verstand kein bisschen davon.

Noch schlimmer war es bei Jean d’Arc. Sie konnte kaum lesen und schreiben, sah schlecht, hatte deswegen oft kopfweh und hörte den erzengel Michael mit ihr sprechen. Als in Poitiers der Dauphin ihre jungfräulichkeit überprüfen ließ, brach Ewald die sitzung ab und war nahe dran, die ganze sache aufzugeben. Erst nach öfteren anrufen und längerem zureden von Dr. Gutmuth entschied er sich, es noch ein letztes mal zu versuchen.

An jenem freitag in der praxis des therapeuten begann alles wie gewöhnlich. Räucherstäbchen und sphärische klänge unterstützten die einleitung der hypnose mittels einer wackelnden taschenuhr, das wohlige gefühl im rücken stellte sich ein, doch der dämmerzustand währte nicht lange. Jäh wurde Kleinhäusl aus diesem gerissen, vor seinem geistigen auge lagen blutige schweine auf metallrollen, sie wurden maschinell an ihm vorbei geschoben, immer wieder schnitten seine hände ihnen den hals auf, der entblutungsschnitt. Sogleich wurde rechts aus einer box ein neues schwein hereingetrieben, es schrie, überhaupt war hier ein unglaublicher lärm. Routiniert legte er dem tier eine große elektrode am kopf an, betäubte es, die maschine hob es hoch auf das förderband, wo er ihm wieder den hals durchschnitt und so weiter, stundenlang, ad infinitum, ad nauseam.

Soweit Ewald es begriff, fühlte der schlachter großteils langeweile, manchmal ärger über die nicht sterbenwollenden tiere, doch ohne pause tötete er in einem weiter, hektoliterweise blut lief in einer rinne vor seinen füßen ab, es stank nach urin und kot, in seinem mund schmeckte es nach metall.
Als Ewald Kleinhäusl aus seiner trance erwachte, übergab er sich auf des doktors perserteppich. Dann nahm er hut und mantel und stürzte ohne ein wort zu sagen hinaus, auf die straßen der stadt.

Aufgewühlt und verwirrt lief er durch den abendverkehr, dies konnte wohl keine rückführung gewesen sein! Ins stammbeisl ging er nicht, vom würstelstand wandte er sich angeekelt ab. Zuhause betrank er sich. Frühmorgens am nächsten tag räumte er den kühlschrank aus, befreite sich von allem fleischhaltigen und lebte fortan als vegetarier. Dr. Gutmuth besuchte er nicht mehr, wenn jener anrief, hob er nicht ab. Wenn er in gasthäusern jemand beim schnitzelessen entdeckte, durchfuhr ihn eine gewaltige wehmut, er fing an zu weinen und brachte eine stunde kein wort mehr heraus. 
 
 

René Bauer, geboren 1978 in Linz, lebt in Ansfelden. Studium an der Johannes-Kepler-Universität Linz (Informatik), der Königlich-Technischen Hochschule in Stockholm (Computer Science) und der Kunstuniversität Linz (Audiovisuelle Mediengestaltung – Film und Video). Verfasser von Kurzgeschichten, Bühnentexten und seltener auch Lyrik. Veröffentlichungen in der Rampe, alternativen Literaturzeitschriften und Anthologien. Mitbegründer des Vereins PostSkriptum, der 2007 das Kunstförderungsstipendium der Stadt Linz erhielt. Seit 2005 zahlreiche Auftritte in Österreich und dem deutschsprachigen Raum, oft unter dem Pseudonym „René Monet“. 2009 Mitbegründer der „Original Linzer Worte“. René Bauer schreibt das Blog „Textsuppe“ unter renemonet.wordpress.org.

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