Das Alltägliche
verliert an Wert.
Quodiana
vilescunt.
- Lateinisches
Sprichwort
Suchte man ein wort,
nur ein einziges wort, das Ewald Kleinhäusl treffend beschreibt, so
wäre es etwas in der art von “junggeblieben”. Da kleiner als die
meisten – euphemistischer gesagt: “von der statur her nicht
überragend” – war Kleinhäusl ein dünner, glatzköpfiger
55jähriger, gerade einmal 163 cm groß, obwohl er auf nachfrage
gerne auf 165 aufrundete. Sein bäuchlein stand etwas hervor,
allerdings nur von der seite richtig zu sehen, hier dafür umso
auffälliger, was seiner ansonsten fast schon untergewichtig
wirkenden generellen anmutung geschuldet war. Damit einhergehend
hatte er ein rundes gesicht, faltenfrei, dunkle haare ohne grau, ein
jugendliches auftreten und trug legere kleidung. Er wirkte wie 40.
Der “Kleine
Häusl”, wie seine stammtischfreunde, alles ehemalige
schulkollegen, ihn (nicht abwertend) nannten, war seit einem
schlimmen bandscheibenvorfall in frühpension. Seine vormittage unter
der woche verbrachte er gerne im massagesalon “sanfte hand”, wo
er einen dauerrabatt genoss und sich von Emma, einer alten liebe aus
verflossenen zeiten, jeweils eine dreiviertelstunde rücken und
schultern massieren ließ. Sie war es auch, die ihm Dr. Gutmuth
empfohlen hatte, einem psychotherapeuten mit hang zu experimentellen
therapievorschlägen, den er nun immer freitag nachmittag für eine
stunde besuchte, ursprünglich, um seine nicht ganz traumatische,
aber doch belastende kindheit auf einem waldviertler bauernhof
aufzuarbeiten. Nun widmeten sie sich aber schon bereits ein jahr der
rückführung in Ewalds frühere leben. Nicht dass er unbedingt und
felsenfest daran glaubte, wirklich mittlerweile etwa 15 mal
wiedergeboren zu sein, doch die art der erinnerungen ließ ihn nicht
großartig zweifeln.
Angefangen hatte es
mit den ersten, plötzlich wie aus heiterem himmel unter hypnose
aufgetauchten situationsbildern und wortfetzen, die sich nach zwei,
drei sitzungen als das leben von – überraschung! – pharaonin
Hatschepsut, die erste königin Ägyptens mit voller königlicher
titulatur, herausstellte, und die er später mehrmals bei ihren
unternehmungen begleitete. Erst nur als zuschauer, quasi ein blinder
passagier in ihrem kopf, dann immer öfter mit dem gefühl, auch die
handelnde, ursprüngliche person zu sein.
Unter den anderen,
durch erfolgreiche rückführungen (Dr. Gutmuth sprach hierbei immer
von “regression”) erfahrenen persönlichkeiten befanden sich
durchwegs nur berühmte oder zumindest außergewöhnliche menschen.
Erwähnenswert sein
leben als Ritter Heinrich von Fleisberg, der als schüler des
Hartmann von Aue ende des 12. jahrhunderts während des dritten
kreuzzugs minnegesänge zu verfassen versuchte, heute aber in
vergessenheit geraten. Unter den bekannteren namen fanden sich
Galileo Galilei, Ignaz Semmelweis, Häuptling Pontiac, der erste
Kaiser der Ming-Dynastie Zhu Yuanzhang oder der erfinder des
farblosen glases für sehhilfen, Abbas ibn Firnas.
Doch was Kleinhäusl
nie so richtig einleuchtete, war die etwas willkürliche auswahl des
ihm erinnerlichen. Als pharaonin badete er viel, er aß, nicht
schlecht zwar, doch eher lustlos von den ihr aufgetischten opulenten
speisen, betrachtete nachts sturzbetrunken den sternenhimmel und
unterhielt sich mit sklaven über regelschmerzen, während diese
ihren körper mit wertvollen ölen einrieben. Im aufgezwungenen
musikunterricht zupfte sie widerwillig an der harfe herum, oder
lauschte den faden schilderungen von beamten, die sie allesamt als
großteils unfähig bis gefährlich einstufte.
Ritter Heinrichs
leben war nur unmerklich interessanter, da er den großteil seiner
zeit dem dichten widmete, aufgrund seiner untalentiertheit aber
selten etwas fertig brachte. Stundenlang saß er über zotigen
gedichten, das thema waren immer imaginierte liebesspiele mit
hübschen burgfräuleins, die er als schlecht verborgene
umschreibungen von geschlechtsverkehr konzipierte, verkleidet in
komischen metaphern, oft durch heranziehen von eindeutig geformtem
gemüse, dem streicheln von äpfeln und birnen, dem durchpflügen von
äckern, die mit dem stock in der hand die feuchte quelle zwischen
den gerade erblühten rosenbüschen suchend oder ganz einfach im
unkultivierten ziehen seines schwertes und hineinstecken in die
nächste scheide. Sein oberflächliches, lyrisch überhöhtes
frauenbild konterkarierte er mit seiner im grunde tiefen verachtung
alles weiblichen, das er als schwach, unebenbürtig und auf eine
lästige weise hilfsbedürftig ansah. Dies und die qualität seiner
“werke” ließen den erfolg bei sämtlichen frauen, denen er
nachzusteigen versuchte, ausbleiben.
Unlängst erinnerte
sich Ewald an seine zeit als der bereits genannte Abbas ibn Firnas,
doch tüftelte der tagaus und tagein nur an dem indischen
dezimalsystem herum, das er in Andalusien einführen wollte. Da ihm
leider das volle verständnis der ziffer null nicht richtig
verinnerlichbar werden wollte, was laute wutanfälle und große
frustration hervorrief, berauschte er sich viel zu regelmäßig in
seinem zimmer an indischem hanf und aß unmengen von feigen, worauf
er sofort einschlief oder aber er verhüllte sich und schlich
heimlich in ein bordell, woran nun Ewald wiederum keine rechte freude
fand, war Firnas doch homosexuell und die lust an dieser neigung dem
jetzigen, katholisch-konservativ erzogenen Kleinhäusl nicht
zugänglich. Dieses thema verführte ausgerechnet den Dr. Gutmuth zu
langen vorträgen über einen vermuteten vaterkomplex seines
patienten und dessen eventuellen hintergrund. Kleinhäusl war das
unangenehm und so versuchte er stets solch geartete ausschweifungen
unerwähnt zu lassen.
Mit seinen freunden
sprach er selten über sein “hobby”. Die wöchentlichen
rückführungen waren so etwas wie eine rückwärtsgewandte flucht
aus seinem eigenen, ereignislosen leben, etwas ganz privates, etwas,
wovon er glaubte, dass es ihm eine befriedigung geben könnte, die er
sonst nicht fand.
Wenn es doch aber
nur nicht immer diese unsäglich langweiligen alltagsgeschichten
wären, die auftauchten! Warum konnte er sich nicht einmal nur an
etwas wichtiges, eindrucksvolles, monumentales, spektakulöses
erinnern?
Hier eine kurze
auflistung der gerade noch erwähnenswerteren erlebnisse seiner
spirituellen vorfahren:
Häuptling Pontiac
ritt über die prärie, es regnete und war furchtbar kalt. Das feuer
wollte nicht recht brennen und der geschossene hase war alt und zäh.
Das salz war auch aus.
Ignaz Semmelweis
stritt mit seiner frau, füllte unmengen von formularen aus, schrieb
briefe, stritt mit kaiserlichen beamten und kollegen und später
daheim wieder mit seiner frau.
Galileo Galilei
hatte einen schiefen rücken, vom dauernden stieren durch das
fernglas, außerdem trank er schlechten wein und litt dadurch unter
wiederkehrenden magenschmerzen.
Leibniz erfand die
infinitesimalrechnung und das dualsystem, aber Ewald verstand kein
bisschen davon.
Noch schlimmer war
es bei Jean d’Arc. Sie konnte kaum lesen und schreiben, sah
schlecht, hatte deswegen oft kopfweh und hörte den erzengel Michael
mit ihr sprechen. Als in Poitiers der Dauphin ihre jungfräulichkeit
überprüfen ließ, brach Ewald die sitzung ab und war nahe dran, die
ganze sache aufzugeben. Erst nach öfteren anrufen und längerem
zureden von Dr. Gutmuth entschied er sich, es noch ein letztes mal zu
versuchen.
An jenem freitag in
der praxis des therapeuten begann alles wie gewöhnlich.
Räucherstäbchen und sphärische klänge unterstützten die
einleitung der hypnose mittels einer wackelnden taschenuhr, das
wohlige gefühl im rücken stellte sich ein, doch der dämmerzustand
währte nicht lange. Jäh wurde Kleinhäusl aus diesem gerissen, vor
seinem geistigen auge lagen blutige schweine auf metallrollen, sie
wurden maschinell an ihm vorbei geschoben, immer wieder schnitten
seine hände ihnen den hals auf, der entblutungsschnitt.
Sogleich wurde rechts aus einer box ein neues schwein
hereingetrieben, es schrie, überhaupt war hier ein unglaublicher
lärm. Routiniert legte er dem tier eine große elektrode am kopf an,
betäubte es, die maschine hob es hoch auf das förderband, wo er ihm
wieder den hals durchschnitt und so weiter, stundenlang, ad
infinitum, ad nauseam.
Soweit Ewald es
begriff, fühlte der schlachter großteils langeweile, manchmal ärger
über die nicht sterbenwollenden tiere, doch ohne pause tötete er in
einem weiter, hektoliterweise blut lief in einer rinne vor seinen
füßen ab, es stank nach urin und kot, in seinem mund schmeckte es
nach metall.
Als Ewald Kleinhäusl
aus seiner trance erwachte, übergab er sich auf des doktors
perserteppich. Dann nahm er hut und mantel und stürzte ohne ein wort
zu sagen hinaus, auf die straßen der stadt.
Aufgewühlt und
verwirrt lief er durch den abendverkehr, dies konnte wohl keine
rückführung gewesen sein! Ins stammbeisl ging er nicht, vom
würstelstand wandte er sich angeekelt ab. Zuhause betrank er sich.
Frühmorgens am nächsten tag räumte er den kühlschrank aus,
befreite sich von allem fleischhaltigen und lebte fortan als
vegetarier. Dr. Gutmuth besuchte er nicht mehr, wenn jener anrief,
hob er nicht ab. Wenn er in gasthäusern jemand beim schnitzelessen
entdeckte, durchfuhr ihn eine gewaltige wehmut, er fing an zu weinen
und brachte eine stunde kein wort mehr heraus.
René
Bauer, geboren 1978 in
Linz, lebt in Ansfelden. Studium an der Johannes-Kepler-Universität
Linz (Informatik), der Königlich-Technischen Hochschule in Stockholm
(Computer Science) und der Kunstuniversität Linz (Audiovisuelle
Mediengestaltung – Film und Video). Verfasser von Kurzgeschichten,
Bühnentexten und seltener auch Lyrik. Veröffentlichungen in der
Rampe, alternativen Literaturzeitschriften und Anthologien.
Mitbegründer des Vereins PostSkriptum, der 2007 das
Kunstförderungsstipendium der Stadt Linz erhielt. Seit 2005
zahlreiche Auftritte in Österreich und dem deutschsprachigen Raum,
oft unter dem Pseudonym „René Monet“. 2009 Mitbegründer der
„Original Linzer Worte“. René Bauer schreibt das Blog
„Textsuppe“ unter renemonet.wordpress.org.
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