Liebes Tagebuch. Von Renate Silberer

Foto: Ole


24.12.1987

Liebes Tagebuch, heute um ca. 20:00 habe ich dich bekommen. Jetzt schreibe ich dir. Eigentlich fällt mir nichts ein. Die Bescherung war sehr schön. Mama ist ein bisschen krank. Ich habe schöne Sachen bekommen. 

 

02.01.1988

Früher haben mir die Lieder von Nino de Angelo gefallen. Besonders „und der Roboter weinte“. Bei der Stelle, „aus den Augen liefen seine Silbertränen so wie nie zuvor“ habe ich immer gedacht, ein Roboter hat auch was Menschliches. Jetzt gefallen mir Münchner Freiheit und Rick Astley. Madonna geht auch.


05.08.1989

Jetzt ein kleiner Test:

Lieblingsfarben: hellgrün, gelb, schwarz, blau

Lieblingssongs: Blame it on the rain, Born to be my baby, Mandy

Lieblingsgruppe: Bon Jovi, Ärzte, Milli Vanilli

Lieblingsessen: Pizza, Palatschinken

Lieblingsgetränk: Cola, Cola-Rum (ist eigentlich grauslich), Bitter Lemon, Spezi

Lieblingsmarken: Camel, Marlboro light

Lieblingsbuch: Zeitschriften (Bravo-Girl, Mädchen) Buch: noch immer Momo

Lieblingsfach: vor zwei Jahren hätte ich noch Pause gesagt, so peinlich. Mathe und Zeichnen

Lieblingsbeschäftigung: mit meiner besten Freundin Luzie zusammen sein, Musik hören


06.09.1989

Heute hat mir meine Mutter gesagt, dass sie weiß, dass ich rauche. Deshalb muss ich jetzt immer schon um 08:00 abends nach Hause kommen und darf nicht mehr bis 10:00 wegbleiben. Und das alles „nur“, weil Luzies Vater sie beim Rauchen erwischt hat, mich hat er ja gar nicht erwischt. Trotzdem hat er es gleich meiner Mutter erzählt. Jetzt sagt sie, ich sollte 2 Jahre lang nicht mehr rauchen. Erst wieder mit 16. Ich hab es natürlich versprochen. Dann hat sie was von Vertrauensbruch gesagt.


19.03.1992

Was groß wie eine Fußsohle ist? Mein zu Hause, immer ist dort alles gleich: das Wohnzimmer, die Küche, Mama und Papa. In meinem Zimmer höre ich the doors. Rechnungswesen ist total bescheuert. BWL interessiert mich auch nicht.


20.03.1992

Papa könnte auch Herr Schweigsam heißen. Und Mama Frau Weghörer. Sie geben mir keine richtigen Antworten und wenn sie doch irgendetwas mit mir reden, sagen sie nie was Echtes. Sie besprechen dann Einkaufslisten und Verhaltensregeln.


23.03.1992

Heute haben wir in BWL über Wirtschaftswachstum geredet. Was soll das heißen, habe ich gefragt. Und die anderen haben mit den Augen gerollt. Wohin soll denn alles wachsen, habe ich dann gesagt, die Welt ist doch begrenzt, es kann nur bei denen Wachstum geben, die den anderen etwas wegnehmen. Die HAK ist definitiv die falsche Schule für mich.


07.05.1992

Ich kann nicht mit dem Bernie zusammen sein, wenn ich in den Mauro verliebt bin. Und der ist in die Martha verliebt und die Martha in den Schiggi.


18.10.1993

In unserer Schule sind so viele alte Nazilehrer. Das habe ich heute erfahren. Ich war das erste Mal bei so einer Antifa-Sitzung. Wir sind im Kreis herumgesessen. Chris, einer aus dem Gym, gefällt mir. Er hat lange, schöne Haare und die Hosenbeine seiner Jeans batikgefärbt. Sie sind ganz bunt, aber mehr gelb und grün. In der Alm-Bar habe ich noch ein Bier mit ihm getrunken und ein Whisky-Sour. Dann hat Luzie mich heimgefahren. Ich glaube, der macht mich nervös.


21.10.1993

Habe ihn heute in der Stadt gesehen. Wir haben uns gegrüßt, ich bin dann aber gleich weiter gegangen. Warum habe ich das gemacht? Ich hätte ja auch stehen bleiben können. Scheiße, war das blöd.


09.11.1993

Mixkassette oder was ich höre, wenn ich an Chris denke:

Fugazi – Waiting Room

The Doors – Alabama Song

Pixies - Where Is My Mind

The Clash – London Calling

Red Hot Chili Peppers – Give it Away

Björk – Human Behavior

Sonic Youth – Drunken Butterfly


04.12.1993

Habe heute Schule geschwänzt und mich mit Chris im Kaffeehaus getroffen. Erst haben wir Tee mit Milch getrunken, geredet und geredet, und dann Tee mit Rum. Danach sind wir in den Plattenladen gegangen und haben uns gegenseitig unsere Lieblingslieder vorgespielt. Wir stehen beide auf the doors. Er hat sogar Liedertexte von Jim Morrison in Buchform. Und er mag Kafka. Perfekt. 


Renate Silberer, geboren 1975, lebt in Linz. Schreibt Prosa und Lyrik. Im März 2021 erscheint ihr Romandebüt "Hotel Weitblick" bei Kremayr und Scheriau. 

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