Mein Strand im Gebirge. Von René Freund

Foto: Thom Trauner

Mein Strand im Gebirge ist das Gegenteil einer Disko: Hier fehlen die harten Beats. Hier plätschert es sanft. Hier regrediere ich nicht, nein, im Gegenteil: Ich prokrastiniere und nähere mich somit dem antiken ideal des Menschseins an, dem edlen Müßiggang.

Mein Strand im Gebirge heißt „Grünau Beach“. Ich kann mit dem Rad hinfahren, aber das mache ich selten, weil die Hunde auch gern mitkommen. Also nehme ich das Auto. Ich fahre nicht weit, vielleicht zehn Minuten, und wohin genau, das werde ich natürlich nicht verraten, denn ich will auch in Zukunft allein an meinem Beach bleiben. Oder zu zweit. Auch an den heißesten Sommertagen bin ich am Grünau Beach völlig frei. Frei von Getümmel, von Imbissbuden, von Lärm, von Disko. Sogar das Handy funktioniert nur sporadisch. Ich kann nichts googeln, keine Mails abrufen, nicht facebooken, keine Fotos verschicken – nichts. Progressive Regression!

Um zu dem Gebirgsflüsschen zu gelangen, an dem mein Sandstrand liegt, muss ich durch einen Wald gehen. Hier beginnt der Prozess der Läuterung. Moose, Felsen und Pilze, in Szene gesetzt von einzelnen Sonnenstrahlen, die sich ihren Weg zwischen verwitterten Fichten bahnen, liegen auf meinem Weg. Und dann kommt die eigentliche Schwelle. Die Prüfung. Denn wenn ich zu meinem Strand will, muss ich vorher durch den eiskalten Bach waten, es führt kein Weg daran vorbei. Die erste Berührung mit dem Wasser und mit den spitzen Kieseln auf den nackten Fußsohlen ist stets ein wenig schmerzhaft. Aber wenn ich dann drüben bin, im Sand, stellt sich dieses wunderbare Prickeln ein.

Der Sand an meinem Beach ist so fein wie jener an der oberen Adria, der Strand allerdings weit weniger weitläufig. Da ist gerade einmal Platz für zwei Handtücher, für zwei Rucksäcke, für zwei Hunde. Das Flussbett rundherum ist ein wenig breiter, doch der Wald im Rücken gibt Geborgenheit, und im Hintergrund wachen unerschütterlich die Berge des Toten Gebirges. Die weißen Flusskiesel und die Wasseroberfläche reflektieren den Sonnenschein, und so entsteht ein wunderbares Licht, strahlend, wie von Innen heraus.

Wann dieser kleine Sandstrand entstanden ist – ich kann es nicht sagen. Eines Tages – vor etwa zwanzig Jahren – war er da. Das Flussufer verändert sich ständig, neue Windungen entstehen, Büsche werden vom Frühlingshochwasser weggeschwemmt, der Herbstregen erschafft neue Biegungen und Abzweigungen, Bäume brechen unter der Schneelast. Ach ja, der Winter. Im Winter führt eine Loipe an meinem Strand vorbei, und wenn ich langlaufe, werfe ich sorgenvolle Blicke hinüber ... Wirst du im Sommer noch da sein, Strand? Und die andere bange Frage – werde ich noch da sein?

Die Disko-Beats fehlen, aber leise ist es nicht am Beach. Das Wasser gluckert, manchmal rollen Steine durch das Flussbett, und immer wieder höre ich Stimmen, seltsame Stimmen. Der Bach übertönt nicht nur viele Geräusche, sondern auch alle unnötigen Gedanken. Die werden davongeschwemmt, und übrig bleibt Stille, die es erlaubt, einfach nur da zu sein und ins Wasser zu schauen. Vielleicht schaue ich dabei ziemlich blöd drein, aber der „blöde Blick“ ist jener der Weisen, und manchmal habe ich den Eindruck, hier einer zu werden. Aber nicht, weil ich so gescheit bin, sondern weil ich aufhören kann zu denken. Ist das nicht phantastisch? Nicht denken! Und das soll Regression sein? Für mich ist das ein Fortschritt, ein unglaublicher Fortschritt!


René Freund, geboren 1967 in Wien, lebt als Autor und Übersetzer in Grünau im Almtal, wo er eifrig am Erwerb des oberösterreichischen Deutsch als Zweitsprache arbeitet und nach Befinden von Dominika "Edith Klinger" seinen Hund zu wenig streichelt und zu wenig bergsteigt. Er studierte Philosophie, Theaterwissenschaft und Völkerkunde und war von 1988 bis 1990 Dramaturg am Theater in der Josefstadt. Bücher (u.a.):  Liebe unter Fischen (2013),  Mein Vater, der Deserteur (2014), Niemand weiß, wie spät es ist (2016),  Ans Meer (2018) und zuletzt Swinging Bells (2019). 2021 erscheint "Das Vierzehn-Tage-Date"

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