unterfordert und überfüttert. Von Elias Hirschl


Foto: Benedict Steyrer

Uns gehts schlecht, mein Gott gehts uns schlecht. Ui gehts uns schlecht. Ui, ui, ui. Wir sind in einem Gulag, ja unsere Wohnung ist ein Gulag, in das wir eingepfercht sind, wie ein armes kleines Schweinderl in seinem Käfig, eine Legehenne auf der Stange, zumindest wie Terrorverdächtige in einem Gefängnis nach amerikanisch-kubanischem Standard! Und was man uns nicht alles wegnimmt! Ui, ui, ui! Unsere Freiheit, unsere Kultur, unsere Saufkultur, man nimmt uns die Worte weg, die man jetzt nicht einmal mehr sagen darf, die Gedanken, die man jetzt nicht einmal mehr denken darf! Man bindet uns die Masken ins Gesicht wie einen Maulkorb! Man zwingt uns zum Händewaschen und Abstandhalten, da kann man uns ja gleich die Krallen abzwicken und die Schwänze kupieren, damit wir uns nicht gegenseitig gefährden, wie die armen, kleinen, eingesperrten, kranken Käfigferkerl, die wir sind! Und als wäre das alles noch nicht schlimm genug, sind wir jetzt neuerdings auch noch Sklaven eines Geheimbundes elitärer Schattenmächte, die in unterirdischen Bunkern Kinder aussaugen wie Schleckeisbeutel, die Zirbeldrüsen noch extra in Zitronenpressen ausdrücken, damit das gute Adrenochrom nicht schimmlig wird. Ja eine unfaire, garstige Welt ist das, und wenn ich ehrlich bin, bin ich auch einfach sauer, dass ich nix von dem Kinderblut abkrieg. Ich mein, entführt und geschächtet sind sie ja schon, da kann man mir zumindest was abgeben. Die können mir nicht erzählen, dass das oberste Prozent vom obersten Prozent sich ganz alleine durch die tausenden Kinder durchschlürfen kann, die die Hillary für sie angekarrt hat. Das schließe ich zumindest aus meinen ausgiebigen Recherchen, für die ich jetzt endlich mehr als genug Zeit hab, wenn ich meinen Körper nicht gerade mit wahlweise Alkohol, Nikotin, Koffein, Zucker, Fett oder Salz zerstöre. Ja, mein Lebensstil hat sich durch die Pandemie durchaus verbessert. Ich bewege mich kaum noch, kann mich keine zehn Sekunden mehr am Stück konzentrieren und meine Organe wetteifern darum, welches als erstes den Körper zum totalen Shutdown bringt. Seit die argwöhnischen Blicke eines menschlichen Gegenübers weggefallen sind, hab ich original zweimal geduscht und einmal Zähne geputzt und letzteres auch nur aus masochistischem Antrieb, einfach um mal wieder irgendwas im Zahnfleisch zu fühlen. Seit Monaten schau ich den ganzen Tag nur noch Fernsehen. Ok, Serien auf Netflix. Ok, Pornos. Na gut, 5-Minuten-Kochrezeptvideos auf Youtube. Ok, ich mach alles gleichzeitig auf vier verschiedenen Bildschirmen, während ich an die Decke starre und mir einen Eimer Chicken Nuggets reinschütte und das einzig Positive, das ich zur Welt beitrage, ist die Tatsache, dass der Fahrradkurier mir die Chicken Nuggets CO2-neutral ans Bett geliefert hat.

Und wie ich da so unterfordert und überfüttert rumliege und mich durch die zunehmend überzeugender wirkenden Theorien im Internet klicke (Lady Di killed JFK???), wunder ich mich zunehmend darüber, dass die ganzen Internet-Verschwörer, die sich sonst immer einen großen, starken Führer zurückwünschen, der sie endlich anleitet und ihr Leben neu ausrichtet, um sie in eine strahlende Zukunft zu geleiten, meistens exakt dieselben Leute sind, die komplette Panik davor haben, dass irgendeine Schattenorganisation sie heimlich mit Handymasten und Kondensstreifen brainwashen könnte. Dabei ist das doch genau das, was sie wollten! Eine größere Macht, der sie sich endlich unterwerfen können, die sie vom Nugget-Panier verklebten Boden hievt, ihnen Werkzeug in die Hand drückt und zur Arbeit an einer besseren Welt schickt. Und ehrlich gesagt gehen mir selbst die schlimmsten Horrorvisionen der besorgten Bürger oft nicht weit genug. Denn, wenn ich mir meinen derzeitigen Zustand so anschau, der daraus resultiert, endlich genug Zeit zu haben, um mich uneingeschränkt mit mir selbst zu beschäftigen, dann kann ich nur sagen: Nehmt mich! Satanisten, Illuminati, Freimaurer, mir scheiß egal, kommt her, holt euch mein Gehirn, solange es auf Vorrat ist! Tauschts mich aus, putschts mich weg, saugts euch das Adrenochrom direkt aus meiner Zirbeldrüse, mir scheißegal, solange ihr mich nicht mit mir allein lasst! Ich hab mein Hirn sowieso seit Jahren nicht mehr gewaschen! Wenn Bill Gates endlich mit seinem Chip fertig ist, darf er mir den gern als Erstprobanden in die Hauptschlagader rammen. 5G zusätzlich als Kontrollinstrument, doppelter Schutz, wie geil oida! Plus die Chemtrails, ich mein, wie viele Eliten kontrollieren uns denn eigentlich? Und dann noch die Makes-the-frogs-gay-Chemikalien und das böse mind-controlling Fluorid, das sie uns auch noch ins Leitungswasser kippen. Das ist schon lieb, dass die bösen, globalen Eliten zumindest die Trinkwasserversorgung aufrechterhalten wollen. Immer noch besser als Nestlé. Der Deep State agiert offenbar zumindest egalitär und fordert gratis Leitungswasser und Impfungen für alle! Wenn das die schlimmste Horrorvorstellung der QAnon Leute ist, dann schließ ich mich dem gerne an! Ich will mind controlled werden! Ich will keinen freien Willen mehr haben! Ich will, dass man mir das Rauchen abgewöhnt und das dritte, vierte und fünfte Bier aus der Hand schlägt! Ich will eine Strafe kriegen, wenn ich auch nur an Koffein denke. Ich spreche dabei gar nicht davon, dass man irgendwas generell verbieten sollte, ich möchte nur persönlich, dass der Barkeeper sagt, oh der Herr Hirschl, nein für den ist Alkohol nicht erlaubt. Ich möchte einfach, dass mir die Entscheidung abgenommen wird, meinen eigenen Körper zu zerstören. Ich will, dass Netflix eine eigene „Hirschl“-Version hat, die nur pädagogisch wertvolle Dokumentationen im Angebot hat, anstatt die siebzehnte Serie über die Geschichte des Pizza-Frittierens. Ich will, dass der Nanny State mich in meinem Kinderwagen durch die Gegend chauffiert und wenn ich auf was Süßes zeig, dann schüttelt der Nanny State einfach nur den Kopf. Ich will, dass man mir die Händewaschregeln auf die Hände tätowiert! Ich will, dass man mir die Maske ins Gesicht näht und das Testwattestäbchen in die Nase schiebt und nicht damit aufhört, nur weil man auf Widerstand stößt. Ich will, dass man mir prophylaktisch die Nägel abzwickt und den Schwanz kupiert, nur zur Sicherheit. Ich will, dass man mir die politisch korrekte Sprache in die Hirnwindungen reinfräst, damit ich mir den grundlegenden menschlichen Anstand nicht selber antrainieren muss. Wieso fürchten sich die ganzen besorgten Bürger eigentlich so vor Denkverboten? „Die Gedanken sind frei“ war für mich immer schon eine Drohung! Ich will Denkverbote! Ich will, dass ich so etwas ja heutzutage gar nicht mehr sagen darf. Ich will, dass ich so etwas heutzutage nicht einmal mehr denken darf. Ich will, dass man mir den Gedanken verbietet, meinen Nebenmann vor die einfahrende U-Bahn zu schubsen. Ich will, dass man mir den Gedanken verbietet, mich selber vor die einfahrende U-Bahn zu schubsen. Ich will, dass man mir alle rassistischen, sexistischen, alle diskriminierenden Gedanken generell verbietet, damit ich mich nicht damit befassen oder gar irgendwas dagegen tun muss! Wenn ich abends im Bett liege und einschlafen will und mein Hirn plötzlich sagt: „Ui, erinnerst du dich damals, als du auf den Zehnmeterturm geklettert bist, weil du die Isabella beeindrucken wolltest und dann hast du dich nicht getraut zu springen und bist zitternd und frierend wie ein Vollidiot die Leiter wieder hinunter geklettert, an all den anderen starken Jungs vorbei, die dich schallend ausgelacht haben und dann bist du ausgerutscht auf der letzten Stufe und hast dir aus zehn Zentimetern Höhe den Kiefer gebrochen?“, dann will ich, dass der Staat mir diesen Gedanken gesetzlich untersagt! Ich will, dass man mir die Abgestumpftheit verbietet und die Ignoranz gegenüber den Vorgängen in der Welt. Ich will, dass man mir Dummheit, Fahrlässigkeit und Selbstsüchtigkeit austreibt! Und vor allem will ich, dass man mir den Wunsch verbietet, meine ganze Verantwortung an eine größere Macht abgeben zu wollen. Denn es ist leichter sich mit einem Aluhut vor fiktiven Strahlen zu schützen als mit einer Maske vor echten Viren. Es ist leichter, sich selbst als eingepferchtes Tier zu sehen, als sich die Existenz realer Massentierhaltung vor Augen zu halten. Es ist leichter, sich um fiktive Kinder in unterirdischen Tunneln zu sorgen, als um echte Kinder an den Grenzen Europas. Und es ist leichter sich vor Gehirnwäsche zu fürchten, als auch nur einen Nachmittag lang mit seinen eigenen Gedanken zurecht zu kommen.


Elias Hirschl wurde 1994 in Wien geboren, ist Romanautor, Spoken Word-Artist und Musiker. 2020 wurde er mit dem Reinhard-Priessnitz-Preis ausgezeichnet. Zuletzt erschienen der Roman „Hundert schwarze Nähmaschinen“ (2017, Jung und Jung) und die Kurzgeschichten-Sammlung „Glückliche Schweine im freien Fall“ (2018, Lektora). 2020 wurde er vom Österreichischen Kunst- und Kulturministerium mit dem Reinhard Priessnitz-Preis ausgezeichnet. Seit 2020 schreibt und spricht er für die FM4-Hörspiel-Reihe „Das magische Auge“. Elias Hirschl lebt in Wien.

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