an welchen tag deines lebens würdest du gerne zurückreisen wollen? Von Fritz Widhalm.

wien, am 21.12.2020



ich würde gerne an viele tage in meinem leben zurückreisen, an sehr viele tage sogar. in gedanken natürlich, mein körper reist nicht mehr so gerne.

mein körper geht ganz gerne spazieren.

zimmerfahrradfahren mit musik mag mein körper auch.

und im kaffeehaus sitzen mit marmorguglhupf und kaffee.

aber gehört mein körper mir? nicht so ganz, da er im grunde tut und lässt was er will, manchmal wird er auch krank, obwohl ich immer sehr nett zu ihm bin.

ich bin kein er, sagt mein körper.

ich eigentlich auch nicht, sage ich, genau genommen bin ich ein fritz, eine wahrheit von vielen sozusagen.

aber dieses thema wird in diesem aufsatz nicht behandelt.

der tag, an dem ich zurückreise, wird kein einzelner tag sein, sondern mehr ein schnitt.

ein ausschnitt, ein einschnitt oder eine schnittfläche.

eventuell auch ein filmschnitt.

ich schneide gerne. und füge gerne zusammen.

das zurückreisen, in gedanken natürlich, ist immer auch ein vorausdenken.

zwischentitel.

von fritz, der auszieht, das lieben zu leben.

wir befinden uns in einem krankenhaus. nein, ich bin nicht krank. ich bin elektrikerlehrling und glamdiva. ich arbeite mit lackierten fingernägeln und david bowie im herzen. das nimmt niemand ernst, ich schon und stefanie findet es aufregend. stefanie ist krank, sie hat sich beim schifahren den rechten oberschenkel gebrochen. bei ihrer entlassung aus dem krankenhaus gibt mir stefanie ihre adresse, sie wohnt 23,7 kilometer von mir entfernt und um 569 meter höher. ich wohne mit eltern und 5 geschwistern, stefanie mit großmutter und halbschwester. ich fahre 7 kilometer mit der eisenbahn und den rest der strecke mit dem postbus. da stefanie sich mit ihrer halbschwester emma ein zimmer teilt, entschließen wir uns, zu dritt ein paar zu werden. wir beginnen den tag mit „john, i'm only dancing“ von david bowie. wir leben das lieben und fühlen uns reich. die großmutter lacht gütig und melkt die kuh. ich denke, die großmutter mag mich, obwohl sie manchmal meine frisur und meine rotlackierten fingernägel bemängelt. auch der lippenstift will ihr nicht so recht gefallen, nicht bei den mädchen und schon gar nicht bei einem fritz. doch die großmutter mag mich, sie lacht gütig.

das lachen der restlichen 171 einwohner*innen des ortes hat kein anzeichen von gütigkeit.

die großmutter lehrt mich die kuh zu melken. ich fühle mich reich. stefanie und emma lachen fröhlich.

zwischentitel.

von drauß vom walde komm ich her.

martin kommt aus dem wald. mit kurzen hosen und pickeln im gesicht. glam ist das nicht, nein, glam ist das nicht.

herr martin, rufen wir, junger gesell, hebe die beine und spute dich schnell.

herr martin gesteht uns mit roten wangen, dass er mich liebt mit großem verlangen. ich gebe mich hin. ich liebe die wälder. are you ready martin? uh-huh. emma? yeah. stefanie? okay. alright fellas, let's go! wir leben den ballroom blitz und fühlen uns reich. wir sind nun kein paar mehr, sondern eine vereinigung.

dilettanten aller länder vereinigt euch!

zwischentitel.

alles hat eine ende, nur die wurst hat zwei.

die großmutter stirbt nachmittags, die kirchenglocken läuten.

stefanie und emma kommen ins heim, da sie noch nicht volljährig sind.

die kuh kommt zur nachbarin.

herr martin hat angst gesehen zu werden.

ich will mich zeigen, um diese welt ein bisschen schöner und besser zu machen.

ich lache laut.

no more mr. nice guy, singt alice cooper.

ende.

 

 

Fritz Widhalm, wohnzimmer@dfw.at

geboren am 15.07.1956 in Gaisberg, Niederösterreich, lebt als Schriftsteller, Comiczeichner, Filmemacher und Musiker in Wien. Mitglied der Grazer Autorinnen Autorenversammlung, IG Autoren Autorinnen, literar mechana und der Austrian Filmmakers Coop. 

Bücher (zuletzt): 

Heute. Ein letztes Buch“, Klever Verlag, Wien 2016

Ich rede schon wieder“ (gem. m. Ilse Kilic), Parasitenpresse, Köln 2016 

Hallo hallo, die Hutschnur steigt“ (gem. m. Ilse Kilic), Edition ch, Wien 2017 

Meistens sind wir einfach soso lalalala“ (gem. m. Ilse Kilic), Edition ch, Wien 2019

Okto-TV: Montag alle 4 Wochen „WohnzimmerFilmRevue“ (gem. m. Ilse Kilic), seit 2007.

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Ganz ohne Pressspann. Von Norbert Trawöger

16 Göttinnen. Von Stephan Roiss

Manfred. Von Karin Peschka