Ich kauf dein Leben. Von Mieze Medusa

 

„Ob man die Lippenstiftspuren von gestern auf der Maske sieht?“

„Ob ein Ruhepuls von 180 kurz-, mittel- oder langfristig ein Problem werden kann?“

„Ob ich im Theaterfundus so ein barockes Kleid mit Reifrock kaufen soll, damit beim Warten aufs Zahlenkönnen im Supermarkt das Abstandshalten nicht mehr eine Frage der Höflichkeit oder die Verleihung eines Darwin Awards wird?“

„Ob es mir was sagen soll, dass es auf Alkohol grad Mengenrabatt gibt, als gäb's kein Morgen mehr?"

„Ob mir das sagen will, es gibt kein Morgen mehr?“

„Ob ich mir einen regenbogenfarbenen Stimmungsaufheller ins Zwerchfell einsaugen soll, weil: Der Gesellschaftliche Konsens ist grad: Wie, du als Mutter schaffst es nicht, neben dem bisschen Home Office und Haushalt auch noch den Unterricht der Kinder zu schaukeln, also wenn es unbedingt sein muss, ist es schon okay, wenn sie tageweise ihr Kind in Betreuungseinrichtungen bringt und bei der Gefahr von häuslicher Gewalt können wir schon was machen, vor allem, wenn sie vorab Bescheid geben, dass sie vorhaben häusliche Gewalt durchzuführen, ja wie exponentiell weltfremd kann denn die Vorstellung von Heim und Familie eigentlich sein?“

Ist es einfach nicht aufgefallen, dass in Sachen Größer, Weiter und Offener-Werden sich ein bisschen was getan hat im Land in den letzten 40 Jahren (und vielleicht schon länger, aber da war ich halt nicht dabei oder nur als Kleinkind und meiner Mama hat man sicher auch ein schlechtes Gewissen gemacht, wenn sie mich in den Kindergarten gebracht hat …

Let's find Umfahrungsstraßen für Schuldgefühle!

Let's find eine Möglichkeit die Steuerfluchtrouten zu schließen!

Let's find it in our heart, to help the refugees in Griechenland und überhaupt:

Was mir so aus den Haaren wächst, ist eine himmelschreiende Empörung: Was ist denn das für eine Definition von Systemrelevanz?

Was ich am Kopf hab, ist ein Durcheinander, weil, okay, seh ich voll ein, aber ist das nicht ein bisschen ein Hohn, wenn man für Menschen klatscht, denen man davor die Kinderbeihilfe gekürzt hat, weil in Rumänien lebt es sich eh so billig?

Warum mich alle so anschauen?

Weil ich schon ganz vorne stehe, in diesem Schuppentier, das sein Habitat in Supermärkten vor der Kasse hat und in der Bibel dafür benützt wird, Eva alles in die Barfußpatschen zu schieben?

Weil ich ganz vorne stehe in der Schlange und wild in meine Maske murmle?

Ob sie mich steinigen, wenn ich versuche mit Bargeld zu zahlen?

Ob man den Lippenstift von gestern auf der Maske sieht?

 

Mieze Medusa

heißt im bürgerlichen Leben Doris Mitterbacher und lebt, nach Stationen in Linz, Innsbruck und London heute in Wien. Sie ist eine der Hauptverantwortlichen dafür, dass sich Slam Poetry in Österreich etabliert hat, und steht als Rapperin und Spoken Word Performerin seit 2002 auf internationalen Bühnen und hat ihren MC-Namen in die Prosa mitgenommen. Ihr Debütroman „Freischnorcheln“ erschien 2008, seitdem hat sie Prosatexte, aber auch Sammlungen von Poetry Slam Texten und Tonträger des HipHop-Duos „mieze medusa & tenderboy“ publiziert sowie Theaterarbeiten und musikalisch-experimentelle Projekte realisiert. Demnächst: „Du bist dran"

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